Kolumbien: Wenn die Gewalt die Gewalt ersetzt

Sonntag, 4. Februar 2018



von Jasmine Pétry*
Ein Jahr. Der erste Jahrestag der Friedensabkommen ist niederschmetternd. Morde, Verfolgungen und Drohungen. Worüber soll manj sich freuen, ein Jahr nach Unterzeichnung dessen, was ein historisches Abkommen zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla sein sollte, das unter fast 70 Jahre bewaffneten Kampfs einen Schlussstrich ziehen sollte?
Insgesamt sollen 18.3 % der 6 Abkommenspunkte umgesetzt worden sein.[1] Um genauer zu sein: diese 18.3 % sind grossteils der Guerilla geschuldet, die ihre Verpflichtungen aus den Abkommen honoriert hat, also sich der Justiz stellen, Waffen und Güter abgeben und eine politische Partei gründen. Was den Rest betrifft – Landreform, Opfer des Konflikts, Garantie der Nicht-Wiederholung, freiwilliger Coca-Ersatz, Amnestie, Spezialjustiz für Kriegsverbrechen: nichts oder fast nichts wurde umgesetzt. 600 ehemalige FARC-Mitglieder sind zwar amnestiert, aber weiter im Gefängnis. Jeden Tag wird offenkundiger, dass der kolumbianische Staat seine Verpflichtungen nicht einhält. Ex-Guerillas und SozialaktivistInnen werden zunehmend ermordet und bedroht. Dem Studieninstitut für Entwicklung und Frieden (Indepaz), wurden letztes Jahr 170 Kader der Sozialorganisationen umgebracht. Dies bedeutet einen Mord auf 2.1 Tagem 45 % mehr als 2016.[2] Im Januar 2018 sind Indepaz zufolge 23 Kader der Sozialbewegungen ermordet worden, fünf davon nachgeweisenermassen von der Armee.[3] 
Andererseits zählt die FARC-Partei 49 ermordete Ex-Guerillas oder Angehörige seit Unterzeichnung des Abkommens am 24. November 2016.[4] Soeben trifft die Nachricht von der Ermordung von vier weiteren Ex-Guerillas der FARC-EP ein, unter ihnen ein Minderjähriger. Von der schlimmen Gesamtzahl sind acht im laufenden Jahr ermordet worden. Die Situation ist so, dass die UNO sie als alarmierend bezeichnete und davon ausgeht, dass für die FARC-Mitglieder keine ausreichenden Schutzmassnahmen gelten.[5] Ungefähr die Hälfte der ermordeten FARC-Mitglieder waren amnestierte Ex-Gefangene; das deutet darauf, dass Freigelassene aussergerichtlich hingerichtet werden. 2018 ist Wahljahr. Die Zunahme der Gewalt gegen die Sozialbewegungen und die politische Opposition wächst offenbar im Rhythmus, dass die Wahltermine (11. März und 27. Mai) näher rücken. Es scheint, dass die ersten “Wahlen in Frieden” nichts am Politikmodell der traditionellen Machtgruppen der letzten 70 Jahre geändert haben.
"Der Krieg ist vorbei"- Links der kolumbianische Präsident Santos, in der Mitte der kuabnische Vermittler Castro und rechts der EX-FARC-Kommandant Timochenko.
 So wie die Guerilla ihre Waffen abgab, hat das Terror-Regime wieder Fahrt aufgenommen. Die FARC ist heute ein Partei, die vollkommen transparent gegen alle Unbill um ihre politische Existenz kämpft. Jetzt, zu Beginn von 2018, haben die Morde an SozialaktivistInnen und Ex-Guerillas der FARC-EP nochmals zugenommen. Und die Drohungen der paramilitärischen Gruppen in den verschiedenen Regionen intensivieren sich. Laut der Defensoría del Pueblo, also der der Generalstaatsanwaltschaft unterstellten Ombudsstelle für Menschenrechte, mussten zwischen dem 17. Und dem 20. Januar 2018 mehr als 1000 Menschn aus verschiedenen Gebieten des Landes flüchten.[6] Zudem haben in Massakern zehn Menschen ihr Leben verloren und sind vierzehn andere verletzt worden. Und die ONIC[7] meldet, dass die indigenen Gemeinschaften wieder falsos positivos[8] denunzieren. Vor wenigen Tagen ist Aracely Canaveral Vélez, eine Pensionierte aus der Konfektionssparte, aber weiter in der Gewerkschaft und neu in der nach der Demobilisierung entstandenen FARC-Partei aktiv, von den Paramilitärs der Autodefensas Gaitansitas de Colombia (AGC) mit dem Tod bedroht worden. Die AGC schrieben in ihrem Pamphlet: „… Aracely Canaveral ab sofort und für immer zum militärischen Objekt erklären (…) Jeder Verbrecher der FARC, der sie besucht oder kontaktiert, wird ebenfalls liquidiert.“ Während des Verfassens dieser Zeilen wurde der Bruder des Bürgermeisters von Buenos Aires im Departement Cauca ermordet.[9]
 
Am 15. September 2016 erklärte der Staatspräsident: „Als Regierung müssen wir unsere Verpflichtungen einhalten und die köperliche Unversehrtheit jeder Person garantieren, die am politischen Leben teilnimmt, und insbesondere sicher stellen, dass kein Mitglied einer Partei, einschliesslich der politischen Bewegung, die aus dem Übergang der FARC ins zivile Leben entstehen soll, Opfer der Gewalt wird.“ Was die 1985 als einer der zahllosen Friedensversuche zwischen der Regierung und der Guerilla der FARC-EP entstandene politische Bewegung Unión Patriótica betrifft, meinte Santos an jenem Tag: „Ich verpflichte mich feierlich vor Ihnen, alle nötigen Massnahmen zu ergreifen, damit in Kolumbien nie mehr eine politische Organisation durchmachen muss, was die Unión Patriótica durchmachen musste“ (die Ermordung von 5000 ihrer Mitglieder in acht Jahren). Nun, Herr Präsident, wo bleibt Ihre Verpflichtung angesichts der systematischen Ermordung von Mitgliedern oder SympathisantInnen der neuen FARC-Partei? Oder sollte Ihr reales, nicht nur verbales Engagement den Projekten der Minenförderung wie jenem von Guarango im Dorf La Aguada nahe Medellín, wo Aracely lebt und wo die Paramilitärs ungehindert agieren?
Die Europäische Union, offizielle Garantin des Friedensprozesses, unterzeichnete am 25. Janaur 2018 ein Abkommen mit dem Fondo Colombia en Paz für € 12 Mio. für den Postkonflikt[10]. Dürfen wir EuropäerInnen fragen, ob die Übergabe dieser Mittel an einen Staat, der seine eingegangenen Verpflichtungen nicht einhält, ethisch vertretbar ist?
Dieser Friedensprozess stellte die grösste Chance für einen Ausweg des Gewaltszyklus dar, in dem Kolumbien seit mehr als einem halben Jahrhundert steckt; die grosse Gelegenheit dafür, dass Politik ohne Waffen gemacht werden kann. Aber das Erstarken der paramilitärischen Aktivitäten und der Repression durch Armee und Polizei stellen diese historische Möglichkeit in Frage. Sind die FARC-EP eigentlich nicht aus der bäuerlichen Selbstverteidigung gegen die Gewalt des Staates entstanden?
·        Die Autorin ist Mitglied von Arlac, Association des Réfugiés de l’Amérique Latine et des Caraïbes (Belgique)
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(zas, 4.2.18) In der letzten Zeit vergeht selten ein Tag ohne die Nachricht von einem oder mehreren Morden an AktivistInnen in Gebieten mit historischer Präsenz der FARC, aber auch der anderen Guerilla, des ELN. Die „Friedensdynamik“ wird immer beklemmender, trotz tapferer Versuche der FARC-Führung, einen unter den Bedingungen der medialen Umzingelung, der staatlichen Nicht-Umsetzung der Abkommen und der eskalierenden Repression extrem prekären Wahlkampf zu führen. In den Auffangzonen für die Demobilisierten sind meistens nicht einmal die grundlegendsten Voraussetzungen für den Aufenthalt grosser Gruppen von Ex-KämpferInnen gegeben; keine sanitären Bedingungen, keine akzeptablen Unterkunftsbedingungen, keine Berufsschulungskurse etc. Deswegen und wegen der offensichtlichen Nicht-Einhaltung der Abkommen durch den Staat versuchen immer mehr Ex-Guerillas, sich alleine oder in Gruppen durchzuschlagen; sie verlassen die Lager ganz oder temporär, einige versuchen zu Verwandten zu gelangen, andere schliessen sich den dissidenten Guerillagruppen der Ex-Farc oder dem ELN an etc. Kurz, die interne Disziplin geht vor die Hunde. Die ELN-Guerilla ihrerseits befindet sich in Quito, Ecuador, ebenfalls in Friedensverhandlungen mit dem Regime. Dieses setzt diese aus, wenn die Guerilla bewaffnete Aktionen nach dem von der Regierung durchgeboxten Auslaufen einer temporären Waffenruhe unternimmt. Die FARC-Führung attestiert Präsident Santos die Bereitschaft, die Abkommen eigentlich umsetzen zu wollen, ohne diese Einschätzung allerdings zu begründen. Doch wachsende Teile der ehemaligen Truppe, ihrer sozialen Basis und wohl auch die ELN-Guerilla können hinter der aktuellen Dynamik nichts anderes erkennen als den unbedingten Willen der Oligarchie und der USA, nach der Entwaffnung der FARC ein allgemeines Terrorregime zur gesellschaftlichen Norm zu machen.


[1] Bericht des Observatorio de Seguimiento de Implementación de los Acuerdos de Paz (OIAP) vom 5. Januar 2018.
[2] El Tiempo, Rubrik Nación, 7. Januar 2018. Indepaz, geleitet von einem ehemaligen Gesundheitsminister, gilt als autoritative Quelle.
[3] Telesur, 2. Februar 2018.
[4] Semana, 23. Januar 2018.
[5] !Pacifista! Online, 2. Februar 2018.
[6] El Espectador, 22. Januar 2018.
[7] Organización Nacional Indígena de Colombia.
[8] Der Begriff bezieht sich auf Opfer der Streitkräfte, die als gefallene Guerillas ausgegeben werden. So können die Militärs positive Resultate ihrer Handlungen vorweisen und die Beteiligten Belohnungen einheimsen. Für die Zeit von 2007 bis 2009 sind mehr als 4000 solcher Fälle registriert.
[9] El País, 24. Januar 2018.
[10] El Espectador, 25. Januar 2018.