Die paramilitärische Offensive in Venezuela

Mittwoch, 14. Juni 2017

https://amerika21.de/blog/2017/06/177366/venezuelas-stunde-schlaegt
10.06.2017
Der Lateinamerika-Experte Marco Teruggi über die paramilitärischen Strukturen und den Kampf der Rechten in Venezuela
Welle der Gewalt bei Oppositionsprotesten Im Bundesstaat Barinas am 22. Mai 2017: rund 100 Geschäfte und mehr als 30 staatliche Einrichtungen wurden attackiert, zum Teil in Brand gesetzt und zerstört
Welle der Gewalt bei Oppositionsprotesten Im Bundesstaat Barinas am 22. Mai 2017: rund 100 Geschäfte und mehr als 30 staatliche Einrichtungen wurden attackiert, zum Teil in Brand gesetzt und zerstört
Quelle: albaciudad.org

Eine Untersuchung der Struktur der paramilitärischen Offensive

Der Krieg kommt nicht erst nach Venezuela, er ist schon im Gange. Man braucht nicht noch auf eine Truppenlandung warten, die militärischen Elemente sind bereits im Land präsent.
Eine Einheit aus 20 Paramilitärs ist jüngst aus Kolumbien in Guasdualito1 eingedrungen und weitere wurden aus Aragua2 in die Stadt San Fernando entsendet. Dies prangerte der Abgeordnete in der Nationalversammlung, Orlando Zambrano3, an. Der Bundesstaat Apure, in dem es abgesehen von Brandanschlägen auf Banken im Dezember bislang relativ ruhig geblieben war, ist zu einem bevorzugten Gebiet der Gewalt der Aufständischen geworden.
Das Eindringen dieser Gruppen hat Zerstörungen, gezielte Angriffe sowie Morde an Führungspersönlichkeiten des Chavismus zum Ziel. Dass Kräfte von außerhalb eingesetzt werden, liegt daran, dass es aufgrund der Stärke der Chavisten in der Region bislang nicht möglich war, solche Aktionen mit vor Ort bereits aufgebauten Gruppen durchzuführen. Verstärkt wird folgendermaßen vorgegangen: Jeder Paramilitär koordiniert eine eigene Gruppe. Aus 20 Paramilitärs werden so 20 Zellen mit Kriegswaffen, Ausbildung und militärischer Struktur. In Apure sind besonders viele paramilitärische Aktionen zu beobachten, deren Ziel Caracas ist, das Zentrum der politischen Macht.
Táchira bildet die starke Nachhut. Dieser Bundesstaat ist seit 2014 zum Zentrum paramilitärischer Aktionen geworden. Hier sind ein großer Teil der aufgebauten Strukturen – im März erst wurde ein Lager ausgehoben – und die praktische Erfahrung zu finden. Seit Beginn der jüngsten Gewaltwelle haben sich dort die Drohungen gegen Bewohner, Händler sowie Bus- und LKW-Fahrer verschärft, hinzu kommen Ausgangssperren, anhaltende Blockaden ganzer Gebiete – wie des Verwaltungsbezirkes Andrés Bello während zwei Wochen – und Angriffe auf Militär- und Polizeikasernen. Wir beobachten hier auch eine Art Symbolikpolitik: Das "Epos von Táchira" soll als Anreiz für den Rest des Landes dienen, als eine Art Aufmunterung. Deshalb die Videos, die Erklärungen, die Bilder.
Táchira dient als Basis der Nachhut. Die Aktionen dort machen vor, wie die Nahrungsmittelversorgung des Landes sabotiert werden kann, das haben Bilder von Angriffen auf Lebensmittel-LKW gezeigt. Die Taktik bestand darin, sie auf den Hauptverkehrsstraßen von San Cristobal (Nr. 5 nach Caracas und Nr. 1 nach El Vigia) zu attackieren. Angriffe auf die Versorgung mit Lebensmitteln sind seit Jahren eine Konstante, die die Leute zermürbt hat. In dieser Phase des Aufstands wird versucht, diese Taktik weiter auszubauen.
Zusätzlich zur Nachhut haben sich die Aktionszentren des Paramilitarismus im Land vervielfacht. Zieht man eine Linie von San Cristóbal nach Caracas, ergibt sich eine Achse, die von Mérida über El Vigía, Tovar, Barquisimeto, Valencia bis nach Los Teques und San Antonio de Los Altos4 reicht. Außerdem kann man eine Linie ziehen, die Barinas, Guanare und Valencia über Socopó verbindet. Dort sind ähnliche Aktionen durchgeführt worden oder werden vorbereitet: Angriffe auf öffentliche Einrichtungen, Brandanschläge auf Transportmittel, auf Büros der Vereinten Sozialistischen Partei (PSUV) und auf tendenziell arme und chavistische Gebiete, Zerstörungen von Geschäften und Raubüberfälle, Terror gegen die Bewohner, lang anhaltende Straßensperren, Attacken mit Feuerwaffen auf Polizisten, Nationalgardisten, Kasernen, Morde an Chavisten und sogar an Demonstranten der Rechten.
In diesen Plan fügt sich das Einsickern von Paramilitärs in Apure ebenso ein wie das Anzünden öffentlicher Busse im Bundesstaat Bolívar und der Versuch, befreite und kontrollierte Gebiete zu schaffen wie in San Antonio de Los Altos. Es handelt sich um einen Aufstandsplan, der die Brennpunkte auf verschiedene Orten des Landes ausdehnt, sich auf dem Territorium mit Stoßtrupps ausbreitet und versucht, sich dem Westen von Caracas zu nähern: dem Präsidentenpalast Miraflores. Der Krieg kommt nicht, er ist schon im Gange.
Kriege werden vorbereitet. Die Entwicklung der paramilitärischen Struktur ebenso. Dies führt Zambrano aus, ein Mitglied der "Revolutionären Strömung Bolívar und Zamora"5: Zwischen den Paramilitärs des Jahres 2002 oder 2008 und denjenigen, die heute aktiv sind, gibt es Unterschiede. Sie bezeichnen sich nicht mehr als "Autodefensas Unidas de Venezuela" (Vereinigte Bürgerwehren Venezuelas)6, und es handelt sich nicht um Kräfte, die von außerhalb ins Land gebracht werden, mit Ausnahme von Fällen wie Guasdualito. Im Land hat vor allem über die Rekrutierung krimineller Banden ein Prozess der Verwurzelung stattgefunden.
Es ist ein Prozess, der seit 2011 in zunehmendem Tempo voranschreitet. Dabei geht es darum, potentielle Anführer krimineller Banden zu identifizieren – wie im Fall "El Picure" 7 –, sie auszubilden, mit modernen Waffen ausrüsten, die Methoden des Kampfes und der Verbrechen zu ändern, Logistik und Nachhut bereitzustellen und sie in eine Struktur einzubinden. Nach außen hin sind sie gewöhnliche Kriminelle, tatsächlich sind sie Teil der paramilitärischen Struktur mit Hierarchien und Aufgaben. Der Ausbildungsprozess bezieht auch junge Leute aus den politischen Parteien ein, wie Lorent Saleh8, der nach Kolumbien geschickt wurde, um dort ein Training zu erhalten und es dann in Venezuela in Aktionen umzusetzen.
Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, die Akteure zu identifizieren. Sie verwenden weder Namen noch Abzeichen und übernehmen keine Verantwortung für die Taten. Im Gegenteil: Sie greifen an, legen Feuer, töten und geben dann dem Chavismus die Schuld, wie man es in zahlreichen Videos gesehen hat, zum Beispiel in Carrizal. Nachdem sie den Händlern gedroht hatten, ihre Geschäfte niederzubrennen, wenn sie öffnen, filmten sie die herunter gelassenen Gitter und betonten den "patriotischen" Charakter der Händler, die sich spontan dem Streik angeschlossen hätten.
Wer sind die Akteure in jedem einzelnen Fall? Sind es Paramilitärs, sind es kriminelle Banden mit Anführern, die Teil einer paramilitärischen Struktur sind, gewöhnliche Kriminelle, die für Gewaltaktionen rekrutiert und bezahlt werden, sind es Leute, die sich diesen Strukturen spontan anschließen? Wo beginnt das Eine und wo endet das Andere? In der Verwirrung liegt die Taktik. Sie lassen sich nicht blicken, aber morden, brennen, schießen, machen Territorien streitig. Ähnlich dem Trick des Teufels nach Charles Baudelaire: Er schaffte es, davon zu überzeugen, dass es ihn gar nicht gibt.
Zu wem gehören sie? Die Struktur des Straßenkampfes, des venezolanischen Paramilitarismus wird zentral geleitet von der Partei Voluntad Popular (Volkswille)9. Zusammen mit Primero Justicia (Gerechtigkeit zuerst)10, sind es diese beiden Parteien, die die Leitung der aufständischen Eskalation übernommen haben. Bündnisse bestehen in den Llanos-Staaten11 vor allem mit den Viehzüchtern, die einen Teil der Aktionen finanzieren.
Die letzte Nachhut befindet sich auf der anderen Seite der Grenze: in Kolumbien.
Wie weit sind die Aktionen gediehen? Es sind militärische Aktionen im Gange, mit Logistik, Infrastruktur, Bewaffnung und entsprechender Vorbereitung, unterstützt und verstärkt durch ein Kommunikationsgeflecht, das Verwirrung, Angst und Gerüchte befördert. Sie haben sich im Land vervielfacht und ihre Tätigkeiten verstärken, darauf weisen die jüngsten Ereignisse hin. Sie werden, falls nötig, von außerhalb unterstützt werden wie in Guasdualito. Ein Zwischenfall jüngst in Barinas zeigt das Ausmaß des Problems: Angriffe und Brandstiftungen in sechs Polizeistationen und Büros der PSUV, des Wahlrates, des Bildungsministeriums, des Nationalen Instituts für Wohnungsbau sowie in Einkaufszentren, und mehr als 100 Straßensperren in Wohngebieten der Unter- und Mittelschicht sowie versuchtes Eindringen in das Kommando der Nationalgarde.
Die Attacken zielen zentral auf die Flanken des Chavismus, denen die Rechte eine hohe Bedeutung zumisst: die institutionelle Einheit (Ombudsstelle, Oberster Gerichtshof, Streitkräfte etc.), die Struktur der Leitung (hinzu kommt hier die Bedrohung von Familienangehörigen), die eher armen Wohnviertel (wie im Fall von El Valle12 oder Barinas) und jetzt die Einnahme militärischer Einrichtungen.
Zu diesem Plan gehört auch das Drängen auf eine immer massivere und sich weiter ausbreitende Gewalt. Bekannt wurde in diesem Zusammenhang der Fall eines jungen Mannes, der in Altamira, einem eher wohlhabenden Stadtteil von Caracas, gelyncht und angezündet wurde. Der Plan wird auch an den Opferzahlen deutlich, die mit jeder Straßenaktion der Rechten steigen. Sie brauchen die Toten, um die Gesellschaft durch Hass zu zerbrechen, um den Aufstand zu eskalieren und sie brauchen sie für ihre externe Front, von der sie eine stärkere Intervention erwarten. Welche Art von Intervention? Vielleicht ist es falsch, auf das große Ereignis zu warten. Vielleicht ist die Intervention bereits im Gange, als Paramilitarismus, unsichtbar.
Quelle: https://hastaelnocau.wordpress.com/2017/05/24/analisis-del-esquema-de-la...