Kolumbien: Genozid, nicht Natur

Freitag, 23. September 2016



(zas, 22.9.16) La Guajira ist das nördlichste Departement Kolumbiens, am Atlantik gelegen. Dort leben rund 500‘000 Menschen, vorallem Mitglieder des Wayuú-Volkes. Seit 2012 ist kein Regen mehr gefallen. Doch die Kinder der Wayuú sterben nicht primär an den Folgen von El Niño und des Klimawandels.
Vor zwei Tagen berichtete die kolumbianische Zeitung El Tiempo, dass in diesem Jahr nach offiziellen Angaben 53 Kinder an Unterernährung gestorben seien und 20 Minderjährige in Intensivstationen wegen seit Juli fehlender Medikamente für die Akutbehandlung von Unterernährung sterben können. 
Siedlung der Wayuú. Quelle: El Tiempo.

Seit Jahren ist solches Sterben in kolumbianischen Medien immer wieder präsent, manchmal in aufwühlenden Berichten, oft in der Vermittlung, wie tatkräftig die Behörden gerade das Problem am Lösen seien. So auch jetzt wieder. Ändern wird sich, wie Gonzalo Guillén kürzlich in einem auf Youtube reproduzierten Interview in Red+Noticias sagte, nichts. Wahrscheinlich sei, dass der Völkermord an den Wayuú in 20 Jahren zur Vernichtung dieses Volks geführt haben werde, ausser drastische Massnahmen würden ergriffen. Guillén hat den Dokumentarfilm El río que se robaron (Der Fluss, den sie stahlen) (Trailer) gedreht, der bei einer Anhörung vor der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten, der CIDH, letztes Jahr als Beweisstück diente. Das Verfahren hatten indigene Strukturen und das Consultorio Jurídico Jorge Tadeo Lozano der Universität von Bogotá angestrengt. Die CIDH verhängte damals  Schutzmassnahmen für die Bevölkerung, der kolumbianische Staat ignoriert diese jedoch. 
El río que se robaron, Trailer

Die Kolumbianische Pädiatrische Gesellschaft hat einen Artikel mit dem Titel La Guajira no se muere de hambre, muere de abandono (La Guajira stirbt nicht an Hunger, sondern an Vernachlässigung) reproduziert. Darin wird Matilde López, eine Anführerin der Wayuú, mit diesen Worten zitiert: „In La Guajira gibt es kein „El-Niño-Phänomen“. Dieses Kind (niño) ist schon alt (…) Seit vielen Jahren hat unser Volk Regenmangel ertragen. Sache ist, dass sie jetzt unsere wahren Probleme hinter der Dürre verstecken wollen, als ob unsere Comunidad nicht seit Jahrzehnten hätte lernen müssen, mit wenigen Regentropfen zu überleben (…) Die Bevölkerung von La Guajira braucht keine Wassertüten. Sie braucht integrale Betreuung, Zugangsstrassen, Gesundheitsversorgung, öffentliche Dienstleistungen bei Strom und Trinkwasser, Ernährungsprogramme, Erziehung und nachhaltige produktive Projekte sowie Arbeitsplätze.“ Der Artikel beleuchtet „die zunehmende Kindersterblichkeit (offiziellen Angaben zufolge sind im Departement von 2008 bis 2013 4112 Kinder an Unterernährung und verhinderbaren Kinderkrankheiten gestorben.“
„Korruption“: Staatliche Gelder für die Erstellung von Wassertanks, Brunnenschächte, Mini-Aquädukte oder Nothilfe sind „versickert“. Kiko Gómez zum Beispiel wurde 2011 mit Unterstützung des Staatspräsidenten Juan Manuel Santos Gouverneur des Departements. Seit 2013 sitzt er wegen mehrerer Morde und Verbindungen zum Paramilitarismus. Er hatte ein Noternährungsprogramm initiiert, in das Millionen staatlicher Dollars flossen, das aber kaum jemanden ernährte. Vor mehr als zwei Jahren fasste Semana Aussagen ebenfalls von Matilde López so zusammen: „Auf Basis ihrer Erfahrung sagt Matilde, dass es einfacher ist, Zementprodukte zu erstellen als einer Comunidad gratis Wasser zu liefern. Denn im ersten Fall verdienen die Vertragsnehmer am Budget. Bei Wasser nicht.“ Deshalb stehen halbfertig gestellte Zementruinen rum, an denen Wahlplakate hängen.
Die offiziellen Daten sind mit Bestimmtheit stark untertrieben. In Las2orillas.co beschrieb die Journalistin Diana López Zuleta einen der Gründe dafür: „Die meisten Kinder, die sterben, haben es nicht bis in die Gesundheitszentren geschafft. Denn sie müssen enorme Distanzen durch die Wüste zurücklegen, da ihnen andere Transportmöglichkeiten fehlen. Deshalb ist mehr als die Hälfte der Kinder, die an Entkräftung sterben, nicht im Zivilstandsregister eingetragen. Und auch ihr Tod wird nicht festgehalten. Die Regierung verfügt folglich nicht über reale Zahlen."
Weit weg von Gesundheitsposten und Strassen.

Aber wenn es nicht das Klima ist, auch nicht bloss die Korruption, woran sind denn die jetzt offiziell über 5000 Kinder der Wayuú gestorben? Es ist „einfach“, brutal einfach. Seit Generationen haben die Wayuú Wasser aus dem einzigen Fluss in ihrer Gegend entnommen, dem Rio Ranchería.  Es gibt ihn nicht mehr. Die Menschen und ihr Vieh (Rinder, Ziegen) können nicht mehr davon trinken, er dient nicht mehr zur Bewässerung von angepflanzter Nahrung. Es gibt den Río Ranchería nicht mehr, weil andere sein Wasser beanspruchen und deshalb einen Staudamm gebaut haben. Die „Anderen“ sind die grösste Tagebaumine der Welt, El Cerrejón, an der Glencore ein Drittel hält, und einige grosse Haciendas von Mafiosi, wie der Filmer Gonzalo Guillén immer wieder sagt, Grossgrundbesitzer, die mit den Paramilitärs im Geschäft sind, wie auch die Glencore (s. dazu die Berichte von Multiwatch). 90 % des Wassers des Flusses, sagt Guillén im erwähnten Interview, gehen an die Mafiafincas und El Cerrejón. 
Deshalb hatten die KlägerInnen bei der CIDH (s. o.) verlangt, dass die Schleusen des Stauwerks wieder geöffnet werden und dass Glencore & Co. auch kein Grundwasser mehr für die El Cerrejón entnehmen dürfen. „Damit“, so die Anwältin der KlägerInnen,  Sácica Moreno, Leiterin des Rechtshilfeinstituts der Uni Bogotá, „die Wayuú-Gemeinschaft prioritären Zugang zu Wasser habe, einem öffentlichen Gut, das heute in einem Stausee ist, zu dem die Indigenen keinen Zugang haben“ (las2orillas.co).
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In Fortführung eines ursprünglich von Hugo Chávez mit dem kolumbianischen Ex-Präsidenten Uribe vereinbarten und nur kurzfristig unterbrochenen Hilfsprogramms für die Wayuú liefert Venezuela in diesem Jahr pro Monat 80 Tonnen Lebensmittel zu günstigen Preisen in die kolumbianische Guajira.
Stell dir vor, die gestorbenen Kinder (und auch manche gestorbenen Erwachsene) wären Wayuú in Venezuela gewesen, nicht in Kolumbien. „Unsere“ Medien global wüssten nicht, wie ihre unendliche Entrüstung auszudrücken. Doch da es sich bei den Toten um solche der für das transnationale Kapital so erfreulichen kolumbianischen „Boomökonomie“ handelt, gehen sie vergessen. Sonst müsste sich womöglich Glencore-Boss Yvan Glasenberg in Zug als Massenmörder bestimmen lassen.
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Im Artikel, den die Kolumbianische Pädiatrische Gesellschaft veröffentlicht hat, kommt auch die Wayuú-Lehrerin Amalia Flórez mit einer Kritik der „mangelnden“ staatlichen Dienstleistungen zu Wort. Doch jetzt eine andere Note aus dem Artikel: „Zu Amalias Füssen kauert ihr dreijähriger Sohn Carlos Eduardo, der einige Biskuits mit einem abgemagerten Hund teilt. Eine Geste, die zeigt, dass „teilen“ für die Wayuú kein leeres Wort ist.“
 Und im oben erwähnten Semana-Artikel lesen wir:
„Die wenigen Orte, an denen die Indigenen Wasser schöpfen, sind voll von Bakterien. Die Comunidad von Mamonal, nahe der Ranchería (Weiler) Rodie, ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür. Um das Leben eines Krokodils zu retten, das an Entkräftung und Wassermangel zu sterben drohte, entschied Vorsteher Federico Epinayú, dem Tier den einzigen Ort zu geben, wo die Leute Wasser schöpfen konnten. Aber die Tage vergingen und die Pfütze vertrocknete, so dass das Krokodil seinen Körper nicht mehr eintauchen konnte. SEMANA teilte dies am letzten Dienstag der Behörde CorpoGuajira mit. Die Antwort der Zuständigen war, dass kein Wagen zur Verfügung stehe, aber sie am nächsten Tag nach Mamonal fahren würden. Aber das war zu spät. Das Krokodil, ein für das Habitat und seinen Schutz wichtiges Reptil, war am nächsten Morgen tot. Es hat nichts genutzt, dass die Comunidad ihr Wasser opferte, um ein Tier zu retten.“